„Klimadienst“ – AIV Schinkel Studierendenwettbewerb – 1. Preis Fachsparte Städtebau

AIV Schinkel Studierendenwettbewerb – 1. Preis Fachsparte Städtebau

Entwurfsverfasser: Jan Tondera · Daniel Klaus · Chris Philipp
Hochschule: Hochschule für Technik, Stuttgart

Klimadienst

Leitidee:

Um dem Klimawandel entgegenzuwirken, muss ein Wandel in den Köpfen der Menschen geschehen. Unser Lösungsansatz ist die Einführung eines post-schulischen Klimadienstes. Junge Heranwachsende erlernen eine enkelgerechte Kreislaufwirtschaft anhand von entscheidenden Kenntnissen und Werkzeugen. Brachflächen eignen sich ideal als Klimadienststandorte. Mit der Industriebrache Rüdersdorf wird eine exemplarische Reaktivierung erläutert und anhand des Kulturreaktors, der ehem. Mischerei, vertieft.

Erläuterungen der vorgeschlagenen Maßnahmen:

Durch eine konsumorientierte Gesellschaft und eine verschwenderische, lineare Wirtschaftsbetrachtung, entsteht eine dekonstruktive Abwärtsspirale. Die Pariser Klimaziele werden nach derzeitiger Handlungsweise verfehlt. Um unseren Planeten für nachfolgende Generationen zu erhalten, wird daher eine radikale Kehrtwende zu einer kreislaufgerechten und damit enkelgerechten Lebensideologie nötig.

Viele, vor allem junge Menschen, schauen besorgt in die Zukunft. Doch die Jungend hat nicht nur Angst, sondern auch den Willen und die Energie, etwas zu verändern. Diese Energie gilt es zu kanalisieren. Aus diesem Grund plädieren wir für die Einführung des „Klimadienstes“. Eine einjährige, verpflichtende Bildungsperiode nach dem Abschluss der Schule, mit dem Ziel der Werte- und Wissensvermittlung einer kreislaufgerechten Lebens- und Wirtschaftsweise. Praxisnah soll durch Teilhabe in einer enkelgerechten Nachbarschaft die Rolle von Besitz, Verschwendung und Lokalwirtschaft, sowie der Wert von Lebensmitteln thematisiert werden. Ziel der inklusiven Bildungsmethodik ist der gegenseitige Mehrwert zwischen dauerhaft Bewohnenden und Klimadienstleistenden. Dabei wappnet der Klimadienst letztere mit entscheidenden Kenntnissen und Werkzeugen, um nach ihrer Rückkehr das gewohnte Umfeld enkelgerecht umzugestalten. So wird eine breite gesellschaftliche, wie demografische Streuung gewährleistet. Nachhaltiger Tourismus und umfassende Kultur- und Freizeitangebote locken weitere Besuchende in das Areal. Ähnlich einer Biene, tragen diese das enkelgerechte Gedankengut wie Pollen in ihr gewohntes Umfeld und bestäuben dieses nachhaltig. 

Durch die Initiierung des Klimadienstes auf Brachflächen können diese als Klimadienststellen innerhalb einer wechselwirkenden Befruchtung sukzessiv revitalisiert werden. Während sie den örtlichen Rahmen des Klimadienstes bieten, können die Dienstleistenden durch Tatkraft am Aufbau einer enkelgerechten Gesellschaft beitragen: Win-Win. Die Klimadienststelle Rüdersdorf ist die erste ihrer Art und Reallabor, um den Klimadienst erst lokal, dann regional und schlussendlich global auszuweiten. Der Wandel von Industriekultur hin zu Nuklei der enkelgerechten Kreislaufwirtschaft, steht dabei sinnbildlich für den angestoßenen gesellschaftlichen Wandel. 

Der städtebauliche Entwurf formuliert einen phasenweisen Entwicklungsvorgang. Mithilfe spezieller Stadtbausteinen ensteht ein synergetischer Nutzungskreislauf, welcher eine nachhaltige, kreativgeführte Standortvitalisierung beflügelt. Erhalt und Nutzung des Bestandes haben dabei Priorität, daher gilt für den Umgang mit diesen die Prioritätenreihenfolge: „Umnutzen > Umformen > Wiederverwerten“. Nachverdichtung findet in erster Instanz auf, an oder innerhalb von Bestandsgebäuden statt, wofür eigens ein Werkzeugkasten entwickelt wurde. Folgend wird das Areal zunächst auf bereits versigelten Flächen ergänzt. Erst in letzter Instanz wird entlang bestehender Wege- und Leitungsführung neue Fläche versiegelt. Für ein harmonisches Wachstum und zur Erhaltung/Stärkung der Gebietsidentität entlehnen sich Neubauten typologisch den Bestandstypologien. 

Der „Kulturreaktor“ entsteht in der ehem. Mischerei in dreiteiliger Konzeption:

Die erste Nutzungseinheit im nördlichen Hallenteil stellt der „Puppenspieler“ dar: eine multifunktionale Kulturstätte. Die Flexibilität zeigt sich durch vertikal verfahrbare Tribünen, ergänzt durch einen Vorhang um den Gastraum, der je nach Bedarf als thermische Pufferzone, Abdunkelung und Schallkörper dient. Abgehängt von einem Raumtragwerk kann der Gastraum dadurch diverse Nutzungsszenarien wie Theatervorstellungen, Vorträge oder gar gänzlich geöffnete Konzerte abbilden. Anstatt einer flächendeckenden Ertüchtigung wird durch die flexible Zonierung in möglichst vielen Szenarien die bloße Gestalt des Bestandes zelebriert. Hinzu kommt die Dramaturgie: Die Zuschauer schreiten durch die Halle, spüren Dimension und Materialität. Sie setzen sich. Der Puppenspieler-Vorhang legt sich über den Gastraum. Es wird still. Der Portalvorhang der Bühne öffnet sich … die Show beginnt. Diesen Ansatz unterstreicht die szenografische Inszenierung der bestehenden Betonsilos als Bühnenkulisse, sowie der darauf aufbauende Bühnenturm samt Obermaschinerie. Ein absenkbarer Prospektvorhang im Sinne einer Leinwand ergänzt das denkbare Bühnenprogramm um kinografische und schattenspielerische Inhalte.

Im mittleren Hallenteil bildet die „Mutter Erde“ einen zentralen Anlaufpunkt. Sie beherbergt die Kulturarkaden: einen polyvalenten Gewölbekomplex, sowie den Energiegarten: Einen Indoor-Permagarten. Hierfür wird Materialtransformation betrieben: Die Ausmauerung zwischen den Stahlbetonstützen der Bestandsfassade werden entnommen und in Tonnengewölbe transformiert. Diese können als Kulturarkaden für Märkte, aber auch als Versammlungsort für Lesungen, Ausstellungen oder gar Hochzeiten genutzt werden. Die Gewölbeoberseite wird anschließend mit Erde verfüllt, welche wiederum im Sinne des On-Site-Recycling dem angrenzenden Hafenaushub entspringt. Durch die Bögen entstehen unterschiedliche Füllhöhen für diverse Wurzeltiefen der Permakultur. Die Leerräume zwischen den Bestandsstützen werden verglast, wodurch ein Gewächshaus-Effekt entsteht. So kann der innewohnende Permagarten ganzjährig für Lernzwecke, als Treffpunkt und Indoor-Park genutzt werden. Ein ausgeklügeltes Klimakonzept regelt die Temperatur und speichert kompensatorisch Wärme für die angrenzenden Hallenteile.

Der dritte, südliche Hallenteil ist der „Bildungshorst“ mit Saatgutforschung und Co-Working. Hier forschen Teams an nachhaltigen Anbaustrategien. Weg von großflächigen Monokulturen, hin zu dreidimensional gedachten Permakulturen. Als Vollholzkonstruktion wurde auf ein kleinteiliges Tragwerk mit geringeren Spannweiten zurückgegriffen. Das Tragwerk, wie auch die Nutzungsverteilung folgt dabei den Gegebenheiten des Bestandes, sowohl der Belichtung als auch den Gebäudeachsen. Die Saatgutforschung liefert Kenntnisse über den Bedarf der jeweiligen Pflanzen und eruiert mögliche Synergien zwischen Pflanzenarten. Durch diese Erkenntnisse kann anschließend sparsamer, ressourceneffizienter und damit nachhaltiger gewirtschaftet werden. Für den im Areal geplanten Klimadienst, wie auch für Bewohnende und Besuchende, bietet die Integration der Saatgutforschung die optimale Voraussetzung für eine interaktive wie integrative Bildungsstätte.

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